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„Wäre ich geblieben, wäre ich schon tot!“ Empfehlung

Ein Volk, vier Staaten und viele Konflikte. Die Karte zeigt die Verteilung der Kurden in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien. Ein Volk, vier Staaten und viele Konflikte. Die Karte zeigt die Verteilung der Kurden in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien. Foto: Ian Bach
Während die EU damit beschäftigt ist, die Flüchtlingslage in den Griff zu bekommen und der Türkei dafür viele Zugeständnisse macht, kämpfen und sterben Kurden im Kriegsgebiet an vielen Fronten. Auch in der Türkei.

TÜRKEI/INNSBRUCK (ce) Der Bürgerkrieg in Syrien, der Islamische Staat im Iran und Irak, die Russen auf der Seite des syrischen Machthabers Assad, die Amerikaner, die die syrischen Rebellen unterstützen: Die Konflikte in den Kurden-Gebieten sind vielschichtig. Kurden kämpfen an allen Fronten. Beinahe vergessen wird international, dass auch die Türkei derzeit gegen die Kurden vorgeht.
Um diesen Konflikt näher zu betrachten und einen direkten Einblick zu gewinnen, traf sich der ROFAN-KURIER mit dem kurdisch-stämmigen Zillertaler Gastronomen Mehmet Ali Tohumcu, der mit seiner Familie seit 2000 in Tirol lebt. Tohumcu musste 1989 die Türkei verlassen, da er als politisch aktiver kurdischer Student ins Visier der Behörden kam. „Wenn ich geblieben wäre, wäre ich schon tot! Einen anderen Studenten haben sie erschossen. Mir blieb nichts anderes, als alles hinter mir zu lassen,“ erzählt Tohumcu dem ROFAN-KURIER.
„Ich kann die Flüchtlinge verstehen, wenn sie sich zum Beispiel in einem vollbesetztem Boot großer Lebensgefahr aussetzen. Zuhause wartet auf manche der Tod, am Ende der Reise wartet vielleicht ein besseres Leben.“

Tohumcu: „Medien misstrauen!“

Der 49 jährige ist aber auch in Österreich politisch aktiv und im Vorstand der ATIK (Föderation der Arbeiter und Jugendlichen aus der Türkei in Österreich) tätig. Durch seine vielen Kontakte kennt er die Situation in seiner Heimat ziemlich genau und weiß, dass nicht alles, was in den Medien bei uns ankommt, auch der Wahrheit entspricht. „Ausländische Medien haben vor Ort selten die Gelegenheit selbst zu recherchieren. Deshalb sind auch sie auf die offiziellen türkischen Medien angewiesen. Aber die sind unter Kontrolle Erdogans und lügen bewusst, um Erdogan im besserern Licht darzustellen“, berichtet Tohumcu. „Wir versorgen uns mit Nachrichten aus den sozialen Medien und verlassen uns auf Berichte von Leuten, die vor Ort sind und die wir kennen. Da erfährt man die ganze, traurige Wahrheit. Gerade der letzte schreckliche Bombenanschlag war ein gutes Beispiel. Erst nach einer Woche kam heraus, was wirklich passiert ist und die offiziellen Medien mussten umschwenken.“

Kurden kämpfen in vier Staaten

Über seine privaten Kanäle erfährt Mehmet auch, was derzeit unmittelbar in den kurdischen Gebieten abläuft. „Wir kämpfen derzeit an vielen verschiedenen Fronten und manchmal habe ich den Eindruck, die Kurden sind die einzigen, die wirklich Mann gegen Mann kämpfen! Wir müssen, wenn wir am Ziel eines zumindest staatsähnlichen kurdischen Gebietes festhalten wollen, uns gegen den IS in Syrien, den IS im Iran, gegen die Irakische Regierung und natürlich gegen die Türkei verteidigen. Untereinander sind die Kurden aber auch oft uneins, einige kämpfen teilweise sogar in den Reihen des IS... Während es überall anders scheinbar nur mit Waffen geht, versuchen wir es in der Türkei auf demokratischen Weg. Doch Erdogan versucht alles, die Kurden aus dem demokratischen Prozess herauszuhalten,“ sagt Tohumcu und sagt: „Ich hoffe, die HDP (Demokratische Partei der Völker im türkischen Parlament) wird nach der geschlagenen Parlaments-Wahl in der Türkei, wieder erfolgreich arbeiten können.“

Tohumcu glaubt: „Kein Friede ohne die PKK“

Die HDP hat in der Türkei der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) ein wenig den Rang abgelaufen, da sie Gewalt ablehnt. Doch Tohumcu erklärt: „Beide Parteien gehören eigentlich zusammen und die PKK ist in den kurdischen Gebieten viel mehr, als nur eine militärische Organisation. Die PKK betreibt Akademien, Kindergärten, Schulen, macht Kulturveranstaltungen und hat insgesamt eine große Akzeptanz in der Bevölkerung.“
Obwohl Mehmet täglich mit seinem Volk mitleidet, ist er froh in Tirol gelandet zu sein. „Ich bin hier und davor in Deutschland sehr gut aufgenommen worden. Meine Kinder waren hier in der Schule und studieren jetzt. Außerdem konnte ich mir als Gastronom etwas aufbauen. Ich hatte Glück, das weiß ich zu schätzen!“ Letzte Änderung am Donnerstag, 05 November 2015 11:45

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